Frühe Spezialisierung im Nachwuchssport: Vor- und Nachteile
Früher trainieren oder länger spielen?
Oder: wer früher gewinnt, der verliert auch früher?
Welches ist das erfolgreichere Konzept?
Wenn eine Sportlerin im Alter von 15 Jahren Olympiasiegerin wird, drängt sich schnell die Frage auf, wann man mit der Spezialisierung beginnen muss(te), um diese Leistung zu vollbringen. In diesem Beispiel handelt es sich um Ruta Meilutyte aus Litauen, die bei den Olympischen Spielen in London 2012 die Goldmedaille im 100m-Brustschwimmen gewann. Ein Zufall oder ein Vorbild? Auch diese Medaille hat zwei Seiten.
Sowohl Trainer wie auch Eltern sehen sich somit schon sehr früh in der sportlichen Karriere der Kinder mit der Aufgabe konfrontiert, eine Entscheidung zu treffen hinsichtlich einer frühen Spezialisierung und dem Trachten nach frühen Erfolgen. Die mit einer Erhöhung von Umfang und Intensität einhergehende Fragestellung ist jedoch nicht nur eine Frage in der jeweils aktuellen Situation, sondern ist mit Sicherheit auch eine Thematik, die den weiteren Entwicklungsweg der Kinder entscheidend beeinflusst. Kann man mehr verlieren als gewinnen, wenn man früh alles auf eine Karte setzt?
Da auch die Sportwissenschaft bislang keine klare Antwort gefunden hat, werden im Nachwuchssport einige richtige, möglicherweise aber auch ganz viele falsche Entscheidungen getroffen. Der Artikel „Vielseitigkeit im Nachwuchstraining“ von Fudel & Hamann (Schriftenreihe Angew. Trainingswissenschaft, 10, s.u.) gibt einen Überblick über Vor- und Nachteile einer frühen Spezialisierung. Eine Zusammenfassung:
Die frühe Spezialisierung
Als early specialisation bezeichnet, kennzeichnet sich das Training durch eine frühe Fokussierung auf eine Zielsportart, dem Wegfall der Phase des Experimentierens in anderen Sportarten und des zwanglosen Sporttreibens. Daraus ergeben sich folgende Nachteile.
Nachteile einer frühen Spezialisierung
- Höhere Verletzungshäufigkeit durch Überlastung
- Gestörtes Wachstum und gestörte Reifung
- Erhöhte Drop-Out-Rate aufgrund sozialer Isolation
- Burn-Out, Ess-Störungen, mangelnde Selbstständigkeit
- Erhöhter Leistungsdruck
Vorteile einer frühen Spezialsierung
- Kurz- bis mittelfristige hohe Leistungssteigerungen
Die vielseitige Ausbildung
Early diversification beschreibt die vielseitige, sportartübergreifende Ausbildung im Kindesalter. Es beinhaltet das Experimentieren in mehreren Sportarten und vielen Aktivitäten außerhalb des organisierten Sports. Die Spezialisierung erfolgt verzögert ab dem Jugendalter.
Nachteile einer vielseitigen sportlichen Ausbildung
- verlängerter Zeitraum bis zur Erreichung der individuellen Höchstleistung in der Spezial-Disziplin
Vorteile einer vielseitigen sportlichen Ausbildung
- höhere Belastbarkeit durch Vermeidung von Abnutzungserscheinungen
- bessere Lern- und Umstellungfähigkeit
- höhere Motivation
- bessere koordinative Fähigkeiten & Leistungen in motorischen Tests
- konstante Leistungen im Hochleistungsalter
- Wirkung spezifischer Trainingsreize wird in späteren Ausbildungsetappen ausgeschöpft
(Gegenüberstellung nach Fudel & Hamann)
Sieht man sich nach dieser Gegenüberstellung beispielhaft die Karriere von Ruta Meilutyte an, so stellt man unweigerlich fest, dass auf den überragenden Sieg 2012 lediglich ein Jahr sportlichen Erfolgs folgte. Die Leistungskurve sinkt ab dem Jahr 2013 (mit ihrem 16. Lebensjahr!) deutlich und könnte einen Hinweis auf die aufgeführten Nachteile einer frühen Spezialisierung sein. Bis heute hat sie ihre Leistungen aus dem 16. Lebensjahr nicht mehr erreichen können!
Frühe prominente Erfolge von Kindern im Sport können deshalb schnell falsch interpretiert und fälschlicherweise als idealtypisches Modell nachgeahmt werden. Gewinnt man früh, so verliert man auch früher? Schwer zu sagen, bietet doch gerade der erfolgreichste Schwimmer aller Zeiten, Michael Phelps, das Gegenmodell. Weltrekord bereits im fünfzehnten Lebensjahr, Olympiasieger noch im Alter von 31 Jahren! Die Ausnahme, die die Regel bestätigt? Der Schwimmsport zeigt die unglaubliche Bandbreite sportlicher Leistungsfähigkeit. So sieht man mittlerweile in internationalen Endläufen Schwimmer und Schwimmerinnen vom 16. bis zum 32. Lebensjahr gegeneinander antreten. Eine erstaunliche Spanne, die deutlich macht, welche Chancen in einer behutsamen Entwicklung verborgen sind.
Ein Plan gehört dazu, Spielen aber auch
Zur erfolgreichen Umsetzung einer leistungssportlichen Karriere gehört nicht nur das spielerische und vielfältige Sporttreiben in allerlei Disziplinen. Es gehört auch ein Plan dazu. Und hier kommt die Wissenschaft, hier kommen gut ausgebildete Fachleute und Trainer ins Spiel. Nicht ohne Grund ist die Sport- und Trainingswissenschaft eine akademische Ausbildung über einige Jahre mit einem breiten Fundament an relevanten Themenfeldern, wie dem altersgerechten Training.
So kann ein ganzjährig durchgeführtes, altersadäquates Krafttraining im Kinder- und Jugendalter dafür sorgen, dass die spätere Erhöhung der sportartspezifischen Belastung besser verkraftet und umgesetzt wird (vgl. Lloyd & Oliver, 2012, s.u.). Diese Sportler werden spätere Umfangs- und Intensitätssteigerung folgerichtig besser verkraften und die Trainingsreize besser umsetzen können. Hier verbergen sich große Chancen für die Vorbereitung einer verletzungsfreien Karriere, wenn man diese Thematik in die Planung integriert.
In diesem Bereich gilt es deshalb anzusetzen, um den Halte- und Bewegungsapparat nicht nur mit eindimensionalen Trainingsbelastungen zu stressen, sondern ihn vielmehr behutsam auf den Hochleistungssport vorzubereiten. Je umfangreicher die athletische Ausbildung durchgeführt wird, umso höher sind die Chancen auf überragende Leistungen.
Technik und Koordination über alles
Ein weiteres Augenmerk sollte auf der technischen und koordinativen Ausbildung liegen. Denn nur in jungen Jahren ist es möglich, technische Muster so zu verankern, dass sie langandauernd sind und somit die Basis für technische Spezialisierungen und/oder Verfeinerungen bildet. Dies gilt in verstärktem Maße für technisch komplizierte Sportarten wie dem Geräteturnen. Handelt es sich hingegen um technisch weniger anspruchsvolle Sportarten, erlebt man aus diesem Grunde immer wieder erfolgreiche „Seiteneinsteiger“.
Triathlon ein Sport der Seiteneinsteiger
Ein Beispiel ist der Triathonsport im Profi- wie auch Amateurbereich. Viele erfolgreiche Seiteneinsteiger haben diesen Sport über viele Jahre hinweg geprägt – im Amateurbereich ist das nach wie vor so. Die relativ einfachen Bewegungen wie das Radfahren und Laufen erlauben einen späten – und erfolgreichen – Ein- bzw. Umstieg.
Dennoch werden die technischen Defizite in der anspruchsvolleren Disziplin Schwimmen selten bis nicht mehr aufgeholt werden können. Für den Nachwuchssport gilt deshalb das Prinzip der frühen technischen Ausbildung und der Vorbereitung auf hohe Umfänge mittels einer soliden athletischen Ausbildung, um im Spitzenbereich erfolgreich sein zu können. Mehr und mehr verdängen diese spezialisierten Sportler die Seiteneinsteiger im professionellen Triathlonsport, die es früher deutlich häufiger gab als heutzutage. Ein Hinweis, weshalb Frodeno, Gomez und Brownlee auf den unterschiedlichsten Distanzen dominieren können. Sie haben ein breiteres Spektrum an Handlungsmöglichkeiten. Das ist der Grund, weshalb Sportler, die alle drei Disziplinen im Kinder- und Jugendalter auch hohem technischen Niveau erlernt haben, den Triathlonsport zunehmend auf ein neues Niveau gehievt haben.
Allgemein und doch etwas speziell
In technisch Sportarten wie dem Tennis ist das allgemeine Training der frühen Spezialisierung vorzuziehen – jedoch immer mit dem Aspekt der Zielsportart. Schließlich ist die Zielsportart tendenziell von einseitigen Belastungen auf den Bewegungsapparat geprägt. Hier gilt es, frühzeitig vorzubeugen. Nur auf der Basis einer vielseitigen Ausbildung und eines überdurchschnittlich gut ausgeprägten athletischen Vermögens (z.B. Kraft und Beweglichkeit) können Leistungssteigerungen – und enorme, wie auch einseitige, Trainingsbelastungen – über viele Jahre hinweg, und vor allem in späteren Phasen der sportlichen Karriere, realisiert werden.
Zusammenfassend ist die große Aufgabe, die Trainer, Eltern und auch Sportler zu bewältigen haben, den individuell optimalen Weg zu finden. Eine regelmäßige Analyse des IST-Zustands hilft, den status-quo auf die langfristige Planung hin zu überprüfen. Dort, wo der eine junge Sportler früher in die Spezialisierung gehen kann, hat der andere noch seine „Hausaufgaben“ zu erfüllen. Hier sind Trainer und Eltern aufgefordert, die Entwicklung und den Trainingsprozess mit geschultem Auge zu verfolgen.
Eine Aufgabe kristallisiert sich, trotz aller individuellen Unterschiede heraus. Das begleitende, sportart-unspezifische Training darf als allgemeine „Körperausbildung“ nicht fehlen. Nur wer seinen Bewegungsapparat schon früh auf spätere Trainingserhöhungen vorbereitet, kann auch langfristig Erfolge erzielen. Fehlt dieser Baustein, droht der überlastungsbedingte Ausstieg.
Geduld für die Freude am Tun
Ist dieser Trainingsbaustein hingegen fest im Fundament der langfristigen Planung hinterlegt, steht einer langfristigen und gleichmäßigen Leistungsentwicklung nichts im Wege. Auch wenn diese Strategie von den Beteiligten mitunter auch ein gehöriges Maß an Geduld verlangt. Aber ganz wichtig: wer als Sportler spürt, wie sich immer wieder Leistungsverbesserungen, statt Stagnationen, einstellen und die Trainingsarbeit regelmäßig Früchte trägt, verfügt über eine Fähigkeit, die schon relativ schnell zu einem leistungsentscheidenden Faktor werden kann: Motivation und echte Freude am Tun!
Lebenselixier statt Burn-Out?
Und langfristig gesehen könnte ein Schwimmer, ein Tennisspieler oder ein Triathlet, der viele Jahre und Jahrzehnte nach seinen eigentlichen sportlichen Höhepunkten noch immer regelmäßig mit Freude und Begeisterung trainiert, vielleicht sogar die wertvollere Ernte der (Trainings-)Arbeit einzufahren, nämlich echte Lebensqualität. Doch das ist dann bereits die nächste bis übernächste Lebensetappe.
Ein interessantes und vielschichtiges Thema. Soviel steht allemal fest!
(von Holger Lüning)
Literaturtipps:
Fudel, R. & Hamann, F. (2016): Die Bedeutung der Vielseitigkeit im Nachwuchstraining. Schriftenreihe Angewandte Trainingswissenschaft, 10, 84-99
Lloyd, R.S. & Oliver J.L. (2012): The youth physical development model: A new apporoach to longterm athletic development. Strength & Conditioning Journal, 34 (3), 61-72
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