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Bewegungsanalyse: Die Grenzen der Populärwissenschaft

Der Sport ist, ganz im Gegensatz zu anderen Berufen, nur unzureichend gegen Meinungen geschützt, die sich lediglich auf Glauben und Beobachtungen stützen. Ähnlich wie Mediziner zunehmend auf Patienten stoßen, die sich ihre Meinung dank „Dr. Google“ gebildet haben und dem ärztlichen Behandler selber sagen, wie sie therapiert werden sollten, ergeht es auch dem Sportwissenschaftler.

Sport ist schließlich die schönste Nebensache der Welt und darf deshalb von jedem kommentiert werden. Dort, wo aber die Analyse von Bewegungen beginnt, beginnt auch das Gebiet der Experten. Denn hier wird es ernst! Warum? Weil die Bewegungsanalyse für diejenigen angefertigt wird, die die Sache ernsthafter und ambitionierter angehen. Aus diesem Grunde ist hier Seriosität gefordert. Und genau an diesem Punkt wird es schwierig mit populärwissenschaftlichen Meinungen.

Gehst du mit einer ernstzunehmenden Krankheit zum Hobby-Mediziner? Natürlich nicht. Im Sport passiert genau das aber recht schnell. Dabei ist dir das Ergebnis aber doch wichtig! Oder etwa nicht?

Ein Beispiel aus dem Schwimmsport

So geistert im Schwimmsport schon lange das Phänomen umher, Sportlern (vor allem Triathleten als schwimmerischen Seiteneinsteiger) das Rotieren beizubringen, um Widerstände zu reduzieren (wieso reduziere ich die, wenn ich mich ständig von links nach rechts drehe?) oder die Zugkraft der Muskulatur zu verbessern (wie verbessere ich die, wenn in mich in dieselbe Richtung zurückdrehe, in die ich auch den Zugarm bewege?).

Die Biomechanik ist nicht ohne Grund ein Spezialgebiet der Sportwissenschaft, weil sie das Wissen über mechanische Vorgänge, anatomische Besonderheiten, muskuläre Aktionen u.v.m. in einer Disziplin vereint. Hier weiß man, wann welche Muskelketten aktiviert werden und wann nicht, wie Kraftvektoren wirken und vortriebsrelevante Aktionen entstehen lassen.

Der ungelernte Beobachter hingegen sieht nur das was erkennbar ist, jedoch nicht die Hintergründe. Und er sieht vor allem oftmals eins nicht, nämlich den Unterschied zwischen:

ACTIO und REACTIO

Ein Gesetz, das 3. Newtonsche Gesetz übrigens, das vor allem im Schwimmen eine ganz besondere Bedeutung hat. Es geht um das Wechselwirkungs- und Gegenwirkungsprinzip. So muss unbedingt erkannt werden, welche Bewegung die Aktion (Verursacher) und welche die Folge, also die Reaktion, darstellt. Dieser Zusammenhang wird im Wasser wegen des Schwebezustands noch etwas komplizierter als er ohnehin schon ist.

So wie in dem folgenden Video, das mich immer wieder erreicht mit dem Hinweis, der Weltrekordler über 1.500 Meter Freistil Sun Yang würde aktiv rotieren. Tut er das wirklich? Die Frage muss lauten: was ist hier die Aktion und was ist die resultierende Reaktion? Kausale Zusammenhänge führen schnell in die Irre, so auch hier.

Der analytische Blick in Struktur

Das Ergebnis der Betrachtung ist für das geschulte Auge recht eindeutig. Die Aktion der seitlichen Lage (häufig fälschlich als aktive Rotation bezeichnet) ist der Atemvorgang, die folgende Reaktion darauf die seitliche Lage (7, siehe Foto unten). Dies erkennt man auch in der zeitlichen Abfolge. Würde es sich um eine aktive, initiative Rotation handeln, würde diese Drehung auch bereits vor dem Atemvorgang erfolgen (5) und nicht erst mit dem Drehen des Kopfes zur Seite. Und: sie wäre auch auf der anderen Zugseite (2,3) erkennbar. Ist sie aber nicht!

Kurz gefasst: eine seitliche Lage entsteht hier durch einen nicht optimalen Atemvorgang. Der Körper verlässt seine strömungsgünstige Position (1-6), weil er durch das übermäßige Drehen (7) des Kopfes dazu veranlasst wird.

Zusammenhänge erfassen

Die Sache ist demzufolge eindeutig. Sun Yang hat in der beschriebenen Situation (7,8) keine optimale Wasserlage. Doch auch hier gilt das Gesetz der individuellen Umsetzung und der individuellen Möglichkeiten. Jeder Sportler setzt die Bewegung so um, wie er es mit seinen Möglichkeiten kann.

Deshalb heißt es in der Biomechanik auch:

er ist nicht so schnell, WEIL er so schwimmt, sondern OBWOHL er so schwimmt!

Schauen wir uns die Bewegungsabschnitte einmal wie folgt an, wird der Zusammenhang noch deutlicher. Zu 90% eines Zyklus´ist die Wasserlage exzellent und waagrecht ausgerichtet. Das erzeugt Auftrieb! Die Ausnahme erscheint immer im Zusammenhang mit dem Atemvorgang. In Abb. 7 fällt die Wasserlage ab, in 8. lässt er für kurze Momente sogar eine sehr hohe Wasserverdrängung zu, bevor die schnelle Rückdrehung in die Waagrechte einsetzt. Damit ist die Bewertung eindeutig. Der Atemvorgang diktiert die Drehung.

Unüberlegte Imitation vermeiden

Fazit: Nein, Sun Yang rotiert nicht aktiv, sondern passiv. Und dies ist ein ganz erheblicher Unterschied. Würde Sun Yang nicht atmen müssen, würde er sich überhaupt nicht drehen und dadurch sogar noch schneller schwimmen können. Somit ist ein Tipp Pro-Beckenrotation eine irreführende Aussage. In etwa so unsachgemäß, als würde man zum Arzt gehen und ein Medikament gegen Magenbeschwerden erwarten, weil der Magen schmerzt. Der Fachexperte jedoch erkennt die Entzündung und urteilt differenziert, da er Ursache und Symptom voneinander unterscheiden kann. „Dr. Google“ kann das nicht! Der Suchmaschinen-Fan auch nicht. Expertenwissen muss hart erarbeitet werden – wie in jedem anderen Beruf eben auch!

Wer auf der Grundlage des Videos – bei dem ein Schwimmer zu 90% der Zeit waagrecht und stabil im Wasser liegt – eine aktive Beckenrotation empfiehlt, der zeigt seine Entfernung zur wissenschaftlicher Analyse.

Ursachen und Symptome

Auch erlaubt nur diese wissenschaftliche Differenzierung die gezielte Intervention bei strukturellen Problemen in der Bewegung. Kann ich nicht unterscheiden, wo die Ursache liegt (ist es die fehlende Kraft, Beweglichkeit etc.) – da ich nur die Symptome sehe – kann ich auch keine Maßnahmen ergreifen, die Erfolg versprechen.

Biomechanik ist folgerichtig nicht nur die Betrachtung, sondern die Analyse. Und dafür braucht es Expertenwissen. Das gibt´s leider nicht im Wochenend-Kurs beim Landesverband (in dem leider auch viel zu häufig Symptome anstatt Ursachen besprochen werden). Denn: der Trainerberuf ist ein Lehrberuf! Dieser Verantwortung sollten man sich bewusst sein – auch in der Konzeption der Ausbildungen in den Verbänden. Und genau hier definiert sich die Grenze zwischen „Dr. Google“ und dem Experten.

Und bitte niemals vergessen: es geht um DEINEN Körper!