Observatives Lernen: Techniktraining ohne Bewegung
Auf dem Sofa zu liegen und dabei seine sportliche Leistungsfähigkeit steigern? Davon träumt doch jeder! Und so ganz unmöglich scheint dies gar nicht zu sein. Mit den Effekten des Observativen Lernens nutzen Sie effektiv die Momente der körperlichen Ruhe.
Von Holger Lüning
Ist Ihnen das auch schon mal passiert? Während einer Live-Berichterstattung im Fernsehen sind Sie so gefesselt, dass Sie beim Sprintfinale einer Tour-de-Frane-Etappe schon einmal aufspringen und den eigenen Körper über die Ziellinie schieben ? Oder gehen Sie bei einem dramatischen Hochsprungfinale auch schon einmal in die Überstreckung, um das Überqueren der Stange zu unterstützen?
In diesem Momenten erleben Sie die Effekte des observativen, also des beobachtenden Lernens. Das Antizipieren von Bewegungsabläufen führt nicht nur zur gedanklichen Mitarbeit sondern löst sogar Muskelkontraktionen aus. Verantwortlich sind die sogenannten Spiegelneuronen, die dafür sorgen, dass man beobachtete Handlungen antizipiert und quasi „mitfühlt“. Spürbar z.B., wenn Ihr Gegenüber in eine Zitrone beißt. Verziehen Sie dabei auch Ihr Gesicht?
Nicht immer sichtbar wie in den genannten Beispielen aber immer präsent. Schon vor über 200 Jahren hat man erstmals festgestellt, dass die intensive Vorstellung einer Bewegung auch Tendenzen zu Ihrer Durchführung hervorruft.
In jüngeren Untersuchungen konnte man dieses Phänomen anhand elektromyographischer Verfahren (EMG) auch wissenschaftlich belegen. Seitdem spricht man, in Anlehnung an die Forschergruppe, auch vom sogenannten Carpenter-Effekt. In der Sportwissenschaft haben diese Erkenntnisse auch als Ideomotorisches Training Eingang gefunden und sind ein Baustein des sehr komplexen Themas des Mentalen Trainings.
Das Lernen durch Beobachtung ist demzufolge nicht nur ein Zufallsprodukt sondern kann ganz gezielt herbeigeführt und eingesetzt werden. Eine Voraussetzung müssen Sie jedoch schaffen: die visuelle Darstellung einer motorischen Idealform. Sei es in Form einer Videoaufzeichnung oder in dem Sie einen hochqualifizierten Sportler bei „der Arbeit“ beobachten.
Besser werden durch gezieltes Beobachten
Werden Sie also ruhig mal zum Zaungast, wenn gute Athleten Ihres örtlichen Vereins trainieren. Zeichnen Sie Wettkämpfe auf Video auf oder erwerben Sie Lehrmaterial. All dies sind hervorragende Quellen für Ihre Trainingseinheit.
Sie müssen sich also nicht zwangsläufig in einem ruhigen Raum befinden, um Lerneffekte zu erzielen. Kombinieren Sie Ihre Beobachtungsgänge auch mit emotionalen Eindrücken. Damit schaffen Sie zusätzliche Erinnerungsanker für Ihr Gedächtnis. Je intensiver Sie sich in die Situation Ihres Bewegungsvorbildes hineinversetzen, desto besser gelingt Ihnen der Transfer der Bewegungsvorstellung.
Konzentrieren Sie sich als Zuschauer eines Schwimmwettkampfes auf einen Athleten. Beobachten Sie seine Bewegungen. Dann entstehen tatsächlich kleinste muskuläre Kontraktionen, die Sie quasi eins werden lassen mit Ihrem Beobachtungsobjekt. Das Gleiche passiert, wenn Sie beispielsweise die Armpendelbewegung eines Läufer studieren oder den Krafteinsatz eines Zeitfahrers genauestens verfolgen.
Diese kleinen Kontraktionen hinterlassen, je häufiger Sie diese Übungsform anwenden, ein Muster in Ihrem motorischen Gedächtnis. Damit fällt Ihnen die eigene Umsetzung oder die Integration von neuen Elementen in Ihr Bewegungsmuster deutlich leichter.
Auch Observatives Training ist Trainingssache
Wie bei jedem anderen Training auch, sollten Sie das Observative Training regelmäßig durchführen. Nehmen Sie sich immer wieder die Zeit, um sich die Idealvorstellung der Bewegung in das Gedächtnis zurückzurufen. Notieren Sie die für Sie wichtigen Schlüsselstellen wie Winkelstellungen oder Momente des muskulären Einsatzes. Mit Hilfe dieser Aufzeichnungen kommen Sie schneller wieder in das Thema hinein und können diese Lernhilfe zusätzlich nutzen, wenn Sie die bewegten Bilder gerade mal nicht zur Hand haben. Formulieren Sie eigene Merksätze!
Möchten Sie einen Schritt weiter machen, dann lassen Sie Ihre eigenen Ausführungen per Videokamera aufzeichnen! Jetzt sind Sie an einem Punkt angelangt, wo Sie einen ersten Soll- / Ist-Vergleich durchführen können. Nun bekommen Sie einen noch besseren Eindruck von Ihrer eigenen Bewegung und können erstmals Ihre kinästhetischen Empfindungen (z.B. über Druckverhältnisse, Armpositionen oder Krafteinsätze) mit der objektiven Darstellung der Bewegung abgleichen und koppeln. Nutzen Sie die Möglichkeit, wenn Sie sie haben. Dies kann zu einem Meilenstein in Ihrem sportlichen Leben werden!
Wie weit sind Sie in der Praxis von Ihrer Wunschvorstellung entfernt? Sie haben nun einen Erkenntnisgrad erreicht, der Sie noch einen weiteren Schritt voran bringt. In der Folge können Sie Ihre Änderungsprozesse noch besser steuern. Zusätzlich können Sie die Hinweise eines Spezialisten oder Trainers in diesen Vorgang einfließen lassen. Somit erlangen Sie durch fortlaufende Trainingseinheiten des Observativen Lernens ein immer feineres Gespür für sich selbst. Ein wunderbares Gefühl!
Sie können also tatsächlich vom Sofa aus Ihre technischen wie auch taktischen Fähigkeiten trainieren. Gerade in der sogenannten Off-Season sollten Sie die trainingsreduzierte Zeit nutzen, um an diesen Komponenten zu arbeiten. Die in der scheinbaren Inaktivität gewonnenen Fähigkeiten können Sie in die sportmotorische Ausführung transferieren und damit auf einem neuen Niveau in die Vorbereitung auf die kommende Saison gehen.
Doch nicht nur das: Sie lernen zusätzlich, sich besser auf Ihre Bewegung zu konzentrieren. Damit stärken Sie das Bewusstsein und schärfen Ihr Vorstellungsgefühl. Als Ergebnis dieser positiven „Stimulanzien“ wird Ihre Leistung auch in Stresssituationen stabiler.
Je vertrauter Sie mit dieser Übungsmethode sind und je häufiger Sie diese angewandt haben desto variabler können Sie die gedanklichen Anker, die Sie im Laufe der Zeit gebildet haben, auch abrufen. In den Momenten vor dem Start werden Sie deutlich konzentrierter sein. Eine kurze Konzentrationsphase wird Sie sofort wieder auf die „richtige Spur“ bringen – nämlich die Spur, die Ihr Observatives Training im motorischen Gedächtnis hinterlassen hat.
Und wenn Ihr Trainingskollege Sie dann fragt, wo Sie sich diese tolle Form geholt haben, dann können Sie lächelnd entgegnen: „Na auf dem Sofa zuhause natürlich!“
Observatives Lernen – wichtige Voraussetzungen
- Wählen Sie zur Beobachtung nur hochqualitative Vorbilder
- Nutzen Sie Videoquellen für Standbild- & Zeitlupeneinstellungen
- Erzeugen Sie eine motivierende Atmosphäre (z.B. Live)
- Konzentration! Versetzen Sie sich in Ihr Beobachtungsobjekt
- Nehmen Sie verschiedene Beobachtungswinkel ein
- Regelmäßigkeit hilft! Beobachten Sie, wo immer es Ihnen möglich ist
- Nehmen Sie ab und zu einen Spezialisten hinzu, der erklärende Worte spricht
- Notizen: Schreiben Sie sich die technischen Schlüsselelemente der Bewegung auf
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